Autor: rudolfhochwarter

heimat

das
fenster
zur
inneren
landschaft

„Man muss Heimat haben,
um sie nicht nötig zu haben“
(Jean Améry)

1
wo es keine namen gibt
nur farben
nur gerüche
nur leise stimmen
und wieder
: gerüche
und wieder
: duftende bilder
heimat
keine namen
nur duftfahnen
der landschaften
hinter den fenstern
hinter verstaubten
blindgewordenen scheiben
an diesen duftfahnen
die in fensterleibungen
haften bleiben
wenn sie sich davonstehlen wollen
erkennt man sie
: die landschaft in uns
man erkennt sie
ohne sie sehen zu müssen
ohne sie umarmen zu können
im nebel
in der mondlosen nacht
hinter halboffenen blinden fenstern
hört man ihre leisen stimmen
die die angst nehmen
atmet man ihre gerüche
erahnt man vertraute duftbilder
wiesen/felder/bäume/bäche
anhaftende düfte
altbekannte gerüche
aus der kindheit
hinter unzähligen fensterkreuzen
fern
: gerüche die sehnsüchte wecken
: nach heimat
: nach vertrautem
: ursprung/anfang
erste bilder
duftbilder
leicht
fern
berührend
erster erdiger duft
später: voll
fruchtig
schwarz
birnenlaubschwarz
mostbirnenlaubschwarz im november
später: die lust
die lust am riechen
am erinnern
am eintauchen

2
lust
lust am riechen der heimat
der ersten anhaftenden düfte
in den fensterkreuzen
der ersten erinnerungen
der ersten fensterbilder
: lustvolle wahrnehmungen
das fenster nach innen
erhellt vergessene bilder
füllt sie mit farbe
belebt sie
macht sie schwer
und wieder ein fenster nach innen
und wieder
und wieder
hinter vielen fenstern
die alten bilder und gerüche
eingenistete bildgerüche
duftbilder
: heimat
: fensterkreuzheimat
fenster
heimat
fenster zur landschaft
in uns
fenster zur heimat
in uns
fensterflügel
unzählige
aufstoßen
landschaften
vertraute
entdecken
ein flügel
und noch viele
und noch viele bilder
und viele düfte
sie enden nie
manchmal sind es fenster
die man nie geschlossen hat
fenster
die mit uns
wieder in diese welt
gelangt sind
von früher
ererbte bildfenster
ererbte duftbilder
man erkennt sie trotztdem
ohne sie gekannt zu haben
ohne sie gehört zu haben
bilder ohne namen
sie sind da
von früher
: ursprünglich
: heimat
in ort und landschaft
hineingeboren
öffnen sich augen
sehen die farben
dieses besonderen lichtes
sonst nichts
nur dieses licht
nur diese besondere farbe
später
: schatten
verschwommene umrisse
die sich auflösen in gegenstände
in farben
in gegenständliche farben
auflösen in besondere farben
in die farben der heimat
darin auch schon die farbe des herbstes
das schwarz des mostbirnenlaubes
in novembergärten
nicht die vielen buntleuchtenden
gelbrotbraunen blätter
in deren farborgien der mischwald
noch einmal üppig aufleuchtet
ein grandioses fest feiert
bilden die herbstfarbe
das trauerfahnenschwarz des mostbirnlaubs
ist die farbe des herbstes
die farbe des sterbens
ist die allerseelenfarbe
die schon im ersten besonderen licht
diese diffusen schatten
der inneren landschaft
zeichnete
in den taunassen herbstgärten
im dumpfen grün
des von den herbstreifnächten
gebrochenen grases
liegen die mostbirnbaumblätter
mit einem schweren gerbsäuregeruch
schwarz
endgültig
besiegelnd
die schwarze siegelfarbe der heimat
mostbirnbäume sind heimat
heimat hinter fenstern
nichts blüht üppiger im frühling
als der alte mostbirnbaum
nichts schmeckt herber
als seine halbreifen früchte
nichts stirbt mit einer herbstlicheren farbe
als das birnenlaub zu allerseelen
schönheit der landschaft
farbreflexion des lichtes
das sich in das lidfenster ergießt
beim ersten öffnen der augen
und diese schönheit
wächst hinter dem augenfenster
wenn die dinge umrisse annehmen
wenn sich der nebel der geburt
über die ersten geruchslandschaften
über täler und hügel zurückzieht
: heimat
heimatlos
: ein farbfenster
verschlossen mit dem siegelschwarz
die scheiben blind
schwarz
ohne licht
wie ein fensterloser raum
ohne orientierungsmöglichkeit
ohne gefühl für raum
für raumzeit
in diesem schwarz
: farblos
: ohne das besondere licht
des ersten augenaufmachens
:heimatlos

3
enge lange duftbänder
wie dichtgedrängte ackerstreifen
durchziehen die ersten erinnerungen
: markierung der inneren landschaft
durch erbfolgen
vielmals geteilten landschaft
unkrautbeachsene ackergrenzen
wege/terrassen/böschungen
herb riechende
sanft an hügel und senken geschmiegte
unkrautmarkierungen
mit wegwarte/leinkraut/malve
trennen die ackerstreifen
mit ihrer hundertschaft an gerüchen
eine geruchslandschaft
die für immer empfindungen formt
modelliert
erdiger duft
der kartoffeläcker nach der ernte
der herbstrübenäcker
der sterbenden kürbiskrautäcker
klee/frischer jungklee/kleeheu
buchweizenfelder im spätsommer blühend
stoppelfelder/roggen/weizen/hafer
haferfelder mit jungklee
klatschmohn/kornblume/kamille
stiefmütterchen/ackerwinde
formen eine geruchslandschaft
schönen diese
machen sie liebenswürdig
vereinnehmbar
erinnerbar
: duftstreifen als identität
: heimat
der geruch der menschen
der geruch ihrer häuser
der geruch der menschen in ihren häusern
gerüche die bleiben
die sich für jahre
in den flimmerhärchen verkriechen
um dann plötzlich
in erinnerungszwängen
ungerufen sich anzubiedern
unauslöschbare erinnerungszwänge
schweiß
urin
süßer moder
in zimmern
jedes haus
eine bleibende
unverkennbare geruchslandschaft
gerbsäuregerüche
essig
sauerkrautbottiche
kellergeruch
stall/nasser hund/misthaufen
gummistiefel/zwetschkenmaische
schneeschmelze/faulendes feuchtes herbstlaub
schnaps/ischiassalbe/brot ofenfrisch
geruchslandschaft
: erinnerungszwänge der nase
: heimat
:heimatlos
schattenlose
geruchlose
unendlichlandschaften
berühren nicht
schaffen keine erinnerungen
die in duftbändern
durch die vielen fensterkreuze
wehen
landschaften
ohne markierungen

4
tiere
atmen
bäume
ächzen
blätter
säuseln
wirtshäuser
lärmen
regen
rauschen
kirche
schweigen
mutter
reden
heimat
: sprachgewöhnung
klang
geräusche
klanggeräusche
heimat
: stimmen
die zu einem sprechen
hinter fensterkreuzen
wo licht/gerüche/sprache
triumphieren
heimat
: das wachsen der sprache
das wachsen vertrauter klänge
verbürgende sicherheit
atmende ächzende lärmende
abgrenzungen im fensterkreuz
in ihrer reihenfolge
prägen sie unausweichlich
licht
gerüche
sprache
versinken
und tauchen wieder auf
immer und überall
dieses zwanghafte herausatmen
von wahrheit
von untrügerischen gerüchen
und klangfarben
alles spätere lässt sich erdenken
ausweichend erdenken
erfinden
lässt sich erlügen
aber diese prägungen nicht
sie bleiben einem immer
und überall erhalten
stimmen
die in der landschaft liegen
in weingärten reifen
in gärbottiche eintauchen
eingeschlossen in weinfässern wachsen
um dann bei gelegenheit
in wirtshäusern lärmen
schweigen/säuseln/schmatzen/röcheln
zu können
stimmen
die in zwetschkenbaumkronen
sich verkriechen
sich einsammeln einmaischen
und destillieren lassen
um dann hochprozentig
schwer zu atmen
vor dem morgenkaffee
nach dem morgenkaffee
vor dem einschlafen
ein schlafen mit
hochprozentigen erinnerungszwängen
ein versinken
ein träumen
ein eintauchen in das licht
in den süßen modergeruch
hinter all den auftauchenden fenstern
gedanken lassen sich ausgrenzen
aber nicht dieses versinken
in licht/gerüche/geräusche
traumlandschaften sind zwanghaft
hochprozentig
heimatlos:
schweigende
sprachlose
ausgrenzung

5
geboren in ……
geboren am ……
wohnhaft zu ……
vater/mutter/religion
geschlecht/größe/alter
aufgezeichnete identität
in amtsstuben
verwaltete heimat
überschaubare ordnung
räume/zeiten
überschaubare enge
vordergründige sicherheit
vater/mutter
lehrer/pfarrer
krampus/nikolo
überschaubare moralität
kirche/schule/elternhaus
und der damit verbundene geruch
: prägung
der geruch
der angstgeruch
von zwängen
diesen erziehungszwängen
haftet auch in den
spinnwebfäden der fensterkreuze
des hauses kindheit
mit den vielen fenstern
armut/angst/enge
disziplinierungen
diese lauten
schmerzenden erziehungsmaßnahmen
dieser kalte geruch angst
und die grauen schatten
der armut
sind auch heimat
wenn man sie von der ferne
wieder und überall erleidet
sind nicht idyllisierung
sondern prägung
sind auch heimat
unausweichbarer
nicht zu leugnender
enger überschaubarer ort
: das haus der kindheit
mit vielen vielen fenstern
mit einer unendlichen
inneren dimension
:heimat

„heimat, das fenster zur inneren landschaft“
ist der Text zu einer vertonten Text-Bild-
Produktion,
uraufgeführt am 19.12.1992 im Rahmen der
Veranstaltungsreihe „limmitationes“ in
Mogersdorf, Burgenland.
Mitwirkende: Rudolf Hochwarter (Text),
Reinhard Petz (Fotos),
Daniela Graf (Sprecherin), Wolfgang R. Kubizek
(Musik).

fernschmerz

reiseeindrücke

0
anhäufungen von behausungen verdichtungen von vernetzungen veralltäglichung von künstlichem unnatürlichkeiten zum natürlichen ordnungslosigkeit zur funktionalität scheinbar gesetzmäßigkeiten
:städte

1
caorle
in einer stille versunken im frühling ohne das hausmeistergeraunze
: caorle wienclean
nebel schwimmt dicht auf der glatten see
nur einige fischerboote tuckern draußen umringt von schreienden möwen unsichtbar in diesen nebel eingehüllt
darüber
vollmond noch im westen schon erblassend
im osten steigt die rote sonne
mond und sonne spannen den himmel mit ihrem rund beschaulich
und plötzlich

2
stiefel in münchen englischer garten berittene polizei
stiefel in münchen ubahnschacht metallknöpfe kahlköpfe
stiefel in münchen lärmendes augustinerbräu satte bierbäuch
: münchner bräuch

3
the big apple groß
in glänzender schale prall
üppig herzeigbar fünf stadtteile fünf kerne des apfels
aber im kerngehäuse die fäulnis zersetzend aushöhlend lebenringend
fruchtfleischzersetzend
unter der schale aus kunststof
: alles verborgen
: alles verlogen
: alles künstlich
: alles business
: alles big apple

4

die stadt im osten
: westlicher als wien die stadt im osten
: österreichischer als wien die stadt im osten
: mehr heimat als wien die stadt doch im westen
: prag
welch schöne erfahrung

5
palazzi
pflastern die stadt gemälde
tapezieren ihre wände marmorauftürmende dome zeugen von opfern
eine zehe davids abgebrochen gestohlen auf dem schwarzmarkt und unter der brücke
„Ponte alle Grazie“
das ufer übersät mit einwegspritzen
? wieviele einstiche in bleiche arme
? wieviele trips
das verstörrt in der stadt
mit dem gemälde
„Geburt der Venus“

6
das sanfte auf und ab des meeres
überträgt sich auf das boot leicht gleitet es durch gassen die sonne
scheint es fliegen zu lassen leicht flügelwachsend trägt es einen fort
im dunstkreis
der sich verbindenden schlieren des merlot
des cabernet

des pinot grigio man schwebt durch
märchenhafte kanäle umgeben von palästen und wacht auf
: der traum ist nicht vorbei
ein traum
: venice

7
brüssel
ist anmaßend unverschämt setzt sich auf die bank
im wartehaus rückt näher immer näher der atem riecht
nach französischem rotwein nach spanischem fisch brüssel
legt seinen arm um die schulter und drückt
und saugt
? eine vergewaltigung
? eine romanze
? eine hingebung
? eine vereinnahmung europa ist nah

8
bläst
peitscht regen zerrt an den sinnlosen schirmen unermüdlich & kaltherzig
stürmt
laut durch gassen laub & abfall
vor sich hertreibend verurteilt fischerboote im hafen

zur untätigkeit
menschen ducken drucken schmucken
sich an wänden entlang frieren sogar im sonnenschein flüchten ins LA SAMARITAINE vorm unbarmherzigen mistral in marseille

blaue eier

ostern 2012,
ein offener brief
hängen doch an meiner haustür 2 blaue eier, 2 ungebetene blaue eier, in
einem billigen plastiksackerl. mit visitenkarte. und feuerzeug. und kuli.
wie widerlich. wie anmaßend.
ich möchte keine 2 blaue eier an meiner haustüre hängen haben und
auch nicht woanders. auch keine roten, schwarzen, orangen oder grünen
eier. und schon gar keine ungebetenen. ich kaufe mir die eier selbst. nicht
gefärbte. sondern weiße oder hell(!)braune (betonung auf hell), von
freilandhennen gelegte eier.
ich will sie nicht, diese von braunen blaupolitikern oder solchen, die es
gerne werden wollen, an mein haustor gehängten umgefärbten eier. die
gehen mir ganz schön am sack – nicht die eier, sondern diese sich
anmaßenden eierverteiler. ich fühle mich im höchsten grad gestört.
und: diese blaueieraktion verstört auch, verstört immens.
hausfriedensbruch, osterfriedensbruch!
ich färbe und kratze meine eier selbst. ich möchte keine weiteren eier an
mein haustor gehängt vorfinden.
pasta!

zigeunerwald

eine annäherung an eine ausgelöschte heimat


rudolf hochwarter
1
rein, gesund und mit einer strengen ordnung versehen zeigt
sich das grundstück auffallend vor dem ort. als frische,
hellgrüne verlängerung des ortes. dahinter, direkt
angrenzend, befindet sich ein dunkler erlenwald. feucht.
modernd. inmitten von diesem grundstück wurde in den
sechzigerjahren der brunnen für die ortswasserversorgung
gebaut. ein gepflegter, kurz gehaltener rasen erzeugt einen
kontrast zum dunkel des erlenwaldes. das grundstück ist
eingezäunt, und ein schild weist auf dieses
wasserschutzgebiet hin. fünfzig jahre, nachdem dort
menschen gelebt haben, zeigt sich dieses stück eingeebnete
land rein, gesund, hell….
sauber, in einer strengen ordnung….
eingezäunt….

2
wir spielten als kinder dort, zwanzig jahre nachdem auf
diesem grundstück menschen gelebt hatten. es war damals
noch ein feuchter, dunkler wald, der niemandem zu gehören
schien. und so gehörte er uns kindern. alle nannten ihn den
zigeunerwald, ohne daß wir uns viel fragten, weshalb. es war
ein flurname wie jeder andere auch.
wir kannten keine zigeuner.

3
erwachsene habe ich dort nie gesehen. ein niemandsland vor
dem ort. ein ungepflegtes, urwaldähnliches spielparadies für
uns. ein schlechter, nasser grund, so die erwachsenen. an
erlen, bruchweiden, haselnuß- und holundersträucher
erinnere ich mich noch, auch an bruchholz, das am boden
vermoderte und von farnen überwuchert wurde. und an die
vielen frühlingsblumen, die dort wuchsen. gelbsterne,
blausterne, buschwindröschen, märzenbecher. und an die
quelle, die damals nur für eine viehtränke genutzt wurde. und
an die kleinen eingeebneten stellen im wald, wo die hütten
gestanden haben sollen.

4
die erwachsenen redeten nicht gerne davon.
mehr als ein paar knappe sätze konnte den erwachsenen nicht
entlockt werden. es gab keine erklärungen, schilderungen,
berichte über die eigene rolle. es blieb alles zugedeckt, für
uns kinder weit zurückliegend, rätselhaft, wir waren
unberührt davon, als hätte das alles nicht stattgefunden. es
war geschichte. für uns kinder weit zurückliegend. ohne
zeugnisse. über die sache wurde geschwiegen und dieses
schweigen ist uns kindern in die wiege gelegt worden. wir
fragten nicht nach den zigeunern, wir fragten den vater nicht
nach seinen kriegserlebnissen. es war ein großes
einvernehmen zwischen kindern und erwachsenen.

5
ein name ist mir noch in erinnerung. der ist öfters gefallen.
auf den redete man sich aus. der wäre der verantwortliche
gewesen. vor dem hätten alle angst gehabt. ein vernaderer.
ein überzeugter, sei der gewesen. kopeszki.

6
auf dem friedhof gab es auch zigeunergräber. einige
kindergräber, zwei erwachsenengräber. als kind bin ich immer
bei einem stehen geblieben. beim grab der zigeuner-rosl. auf
dem grabstein befand sich ein bild der frau. es faszinierte
mich. dieses bild war mein zigeunerbild meiner kindheit. der
grabstein und das bild waren für mich die einzigen konkreten
hinweise. es mußte sie tatsächlich gegeben haben.
ich war immer fasziniert von diesem foto auf dem grabstein.
eigentlich erinnerte mich das bild dieser dunklen frau mit
dem weiß in den augen an eine indianerin, wie ich sie mir
durch die karl may bücher vorstellte. es muß eine hübsche
frau gewesen sein. man redete auch gut über die zigeunerrosl.

7
das bild dieser frau ist mir geblieben. sonst habe ich keine
wirklichen bilder vom friedhof aus meiner kindheit. wie die
gräber ausgesehen haben, weiß ich nicht. nur das bild dieser
zigeunerin ist klar vor mir.
die gräber sind nun eingeebnet. grüne flecken im kleinen
friedhof. ausgelöschte gräber. wo sind die grabsteine? wo ist
dieser grabstein mit diesem bild?
wo ist das weiß dieser augen?
in diesem weiß ist die ganze geschichte dieser zigeunerin
begraben.

8
im zigeunerwald mußte es ihre stimme gegeben haben.
manchmal, wenn ich allein dort war, lauschte ich angestrengt
und glaubte sie zu hören. und dann die stimmen der kinder,
laut anwachsend. da kam in mir manchmal angst auf. ich
blickte dann zu den dunklen erlenkronen auf und redete mir
ein, es werde wohl das sausen des windes sein.

9
ja, kinder müßte es im zigeunerwald auch gegeben haben,
stellte ich mir vor. zigeunerkinder. über sie redeten die
erwachsenen nie. sie waren ein tabu. da dürfte sich eine
unangenehme schuld in den erinnerungen der erwachsenen
verwurzelt haben. eine, die nicht einfach abzuschütteln war.
eine sich immer tiefer verwurzelnde schuld.

10
der zigeunerwald gerodet, planiert, begrünt.
die gräber aufgelassen, planiert, begrünt.
keine bilder, keine zeugnisse.
nichts aufgeschriebenes.
auslöschung einer heimat.

11
in einer kürzlich erschienen ortschronik kann man folgendes
nachlesen:
…in […] gab es bis zum 2. Weltkrieg auch einige Roma-
Häuser. Die Roma führten angeblich alle den Namen Horvath.
Zu Beginn des nationalsozialistischen Regimes waren sechs
Romafamilien ansässig. In den Jahren 1938 bis 1941 wurden
diese Familien verschleppt.

12
die verharmlosung oder nichtnennung einer historischen
begebenheit mag gründe haben. einerseits könnte der mut
fehlen, die schuld noch lebender, unmittelbar beteiligter
niederzuschreiben, ihnen die wahrheit ins gesicht zu
schreiben, andererseits scheut man sich möglicherweise
davor, sich mit dem roma-holocaust auseinanderzusetzen.
berührungsangst. das alles hat nicht irgendwo stattgefunden.
hier! mitten unter uns!
das wort verschleppt verharmlost, verschleiert. das wort
verschleppt verfälscht die chronik. macht sie druckbar. macht
sie rein. macht sie unter die leutinbringbar.
verschleppen ist eine gewaltsame ortsveränderung. keine
vernichtung von männern, frauen, kindern. daher:

13
fortsetzung einer chronik:
an der verschleppung waren ortsansässige männer, die zu
diesem zweck rekrutiert worden sind, beteiligt. die
verschleppung wurde von einem ss-mitglied, einem gewissen
kopeszki, geleitet. die romafamilien mußten ohne gepäck in
den frühen morgenstunden ihre häuser verlassen und nach
fürstenfeld marschieren. dort wurden sie entkleidet, männer
von frauen und kindern getrennt und in viehwaggons in ein
lager transportiert. ihre hütten wurden niedergebrannt. nach
dem krieg kehrte kein roma zurück. später wurde auf dem
areal der ehemaligen romasiedlung der brunnen der
ortswasserversorgung geschlagen. der sogenannte
zigeunerwald wurde gerodet und ist derzeit
wasserschutzgebiet. die letzten zeugnisse der romasiedlung,
einige gräber auf dem dorffriedhof, wurden von der gemeinde
entsprechend der friedhofsordnung als gräber ohne
angehörige eingestuft und aufgelassen.

14
eine andere variante der chronik, die nie geschrieben wird
können:
…von 1938 bis 1941 wurden die romafamilien in
vernichtungslager deportiert. es gab vermutlich keine
überlebenden. da angehörige des ortes an der deportation
mitgewirkt haben, versuchte die gemeinde, ein zeichen der
versöhnung zu setzen. die gemeinde übernahm die pflege der
noch vorhandenen zigeunergräber und errichtete im
ehemaligen zigeunerwald einen gedenkstein. ein mahnmal.

15
nach fünfzig jahren:
ein junger gemeindearbeiter mäht den rasen im
wasserschutzgebiet. mit dem kleinen traktor zieht er immer
engere kreise zum brunnen. ich betrachte den hohen zaun um
das wasserschutzgebiet. der zaun ist ungewollt mahnmal. der
zaun erinnert an lager.
ich frage den jungen arbeiter, ob er wisse, was da früher auf
dem grundstück gewesen sei.
er sagt nein.
ich sage, daß auf dem grundstück zigeuner wohnten,
er sagt, nein, er schreit, nein! zigeuner gäbe es hier nicht. er
wisse nichts von zigeunern, die hier einmal gelebt haben
sollen. hier ist nur das wasserschutzgebiet.
da ich diesen jungen arbeiter nicht kenne, frage ich ihn, wie
er heiße.
kopeszki, ist seine antwort.


august 1995