das
fenster
zur
inneren
landschaft

„Man muss Heimat haben,
um sie nicht nötig zu haben“
(Jean Améry)

1
wo es keine namen gibt
nur farben
nur gerüche
nur leise stimmen
und wieder
: gerüche
und wieder
: duftende bilder
heimat
keine namen
nur duftfahnen
der landschaften
hinter den fenstern
hinter verstaubten
blindgewordenen scheiben
an diesen duftfahnen
die in fensterleibungen
haften bleiben
wenn sie sich davonstehlen wollen
erkennt man sie
: die landschaft in uns
man erkennt sie
ohne sie sehen zu müssen
ohne sie umarmen zu können
im nebel
in der mondlosen nacht
hinter halboffenen blinden fenstern
hört man ihre leisen stimmen
die die angst nehmen
atmet man ihre gerüche
erahnt man vertraute duftbilder
wiesen/felder/bäume/bäche
anhaftende düfte
altbekannte gerüche
aus der kindheit
hinter unzähligen fensterkreuzen
fern
: gerüche die sehnsüchte wecken
: nach heimat
: nach vertrautem
: ursprung/anfang
erste bilder
duftbilder
leicht
fern
berührend
erster erdiger duft
später: voll
fruchtig
schwarz
birnenlaubschwarz
mostbirnenlaubschwarz im november
später: die lust
die lust am riechen
am erinnern
am eintauchen

2
lust
lust am riechen der heimat
der ersten anhaftenden düfte
in den fensterkreuzen
der ersten erinnerungen
der ersten fensterbilder
: lustvolle wahrnehmungen
das fenster nach innen
erhellt vergessene bilder
füllt sie mit farbe
belebt sie
macht sie schwer
und wieder ein fenster nach innen
und wieder
und wieder
hinter vielen fenstern
die alten bilder und gerüche
eingenistete bildgerüche
duftbilder
: heimat
: fensterkreuzheimat
fenster
heimat
fenster zur landschaft
in uns
fenster zur heimat
in uns
fensterflügel
unzählige
aufstoßen
landschaften
vertraute
entdecken
ein flügel
und noch viele
und noch viele bilder
und viele düfte
sie enden nie
manchmal sind es fenster
die man nie geschlossen hat
fenster
die mit uns
wieder in diese welt
gelangt sind
von früher
ererbte bildfenster
ererbte duftbilder
man erkennt sie trotztdem
ohne sie gekannt zu haben
ohne sie gehört zu haben
bilder ohne namen
sie sind da
von früher
: ursprünglich
: heimat
in ort und landschaft
hineingeboren
öffnen sich augen
sehen die farben
dieses besonderen lichtes
sonst nichts
nur dieses licht
nur diese besondere farbe
später
: schatten
verschwommene umrisse
die sich auflösen in gegenstände
in farben
in gegenständliche farben
auflösen in besondere farben
in die farben der heimat
darin auch schon die farbe des herbstes
das schwarz des mostbirnenlaubes
in novembergärten
nicht die vielen buntleuchtenden
gelbrotbraunen blätter
in deren farborgien der mischwald
noch einmal üppig aufleuchtet
ein grandioses fest feiert
bilden die herbstfarbe
das trauerfahnenschwarz des mostbirnlaubs
ist die farbe des herbstes
die farbe des sterbens
ist die allerseelenfarbe
die schon im ersten besonderen licht
diese diffusen schatten
der inneren landschaft
zeichnete
in den taunassen herbstgärten
im dumpfen grün
des von den herbstreifnächten
gebrochenen grases
liegen die mostbirnbaumblätter
mit einem schweren gerbsäuregeruch
schwarz
endgültig
besiegelnd
die schwarze siegelfarbe der heimat
mostbirnbäume sind heimat
heimat hinter fenstern
nichts blüht üppiger im frühling
als der alte mostbirnbaum
nichts schmeckt herber
als seine halbreifen früchte
nichts stirbt mit einer herbstlicheren farbe
als das birnenlaub zu allerseelen
schönheit der landschaft
farbreflexion des lichtes
das sich in das lidfenster ergießt
beim ersten öffnen der augen
und diese schönheit
wächst hinter dem augenfenster
wenn die dinge umrisse annehmen
wenn sich der nebel der geburt
über die ersten geruchslandschaften
über täler und hügel zurückzieht
: heimat
heimatlos
: ein farbfenster
verschlossen mit dem siegelschwarz
die scheiben blind
schwarz
ohne licht
wie ein fensterloser raum
ohne orientierungsmöglichkeit
ohne gefühl für raum
für raumzeit
in diesem schwarz
: farblos
: ohne das besondere licht
des ersten augenaufmachens
:heimatlos

3
enge lange duftbänder
wie dichtgedrängte ackerstreifen
durchziehen die ersten erinnerungen
: markierung der inneren landschaft
durch erbfolgen
vielmals geteilten landschaft
unkrautbeachsene ackergrenzen
wege/terrassen/böschungen
herb riechende
sanft an hügel und senken geschmiegte
unkrautmarkierungen
mit wegwarte/leinkraut/malve
trennen die ackerstreifen
mit ihrer hundertschaft an gerüchen
eine geruchslandschaft
die für immer empfindungen formt
modelliert
erdiger duft
der kartoffeläcker nach der ernte
der herbstrübenäcker
der sterbenden kürbiskrautäcker
klee/frischer jungklee/kleeheu
buchweizenfelder im spätsommer blühend
stoppelfelder/roggen/weizen/hafer
haferfelder mit jungklee
klatschmohn/kornblume/kamille
stiefmütterchen/ackerwinde
formen eine geruchslandschaft
schönen diese
machen sie liebenswürdig
vereinnehmbar
erinnerbar
: duftstreifen als identität
: heimat
der geruch der menschen
der geruch ihrer häuser
der geruch der menschen in ihren häusern
gerüche die bleiben
die sich für jahre
in den flimmerhärchen verkriechen
um dann plötzlich
in erinnerungszwängen
ungerufen sich anzubiedern
unauslöschbare erinnerungszwänge
schweiß
urin
süßer moder
in zimmern
jedes haus
eine bleibende
unverkennbare geruchslandschaft
gerbsäuregerüche
essig
sauerkrautbottiche
kellergeruch
stall/nasser hund/misthaufen
gummistiefel/zwetschkenmaische
schneeschmelze/faulendes feuchtes herbstlaub
schnaps/ischiassalbe/brot ofenfrisch
geruchslandschaft
: erinnerungszwänge der nase
: heimat
:heimatlos
schattenlose
geruchlose
unendlichlandschaften
berühren nicht
schaffen keine erinnerungen
die in duftbändern
durch die vielen fensterkreuze
wehen
landschaften
ohne markierungen

4
tiere
atmen
bäume
ächzen
blätter
säuseln
wirtshäuser
lärmen
regen
rauschen
kirche
schweigen
mutter
reden
heimat
: sprachgewöhnung
klang
geräusche
klanggeräusche
heimat
: stimmen
die zu einem sprechen
hinter fensterkreuzen
wo licht/gerüche/sprache
triumphieren
heimat
: das wachsen der sprache
das wachsen vertrauter klänge
verbürgende sicherheit
atmende ächzende lärmende
abgrenzungen im fensterkreuz
in ihrer reihenfolge
prägen sie unausweichlich
licht
gerüche
sprache
versinken
und tauchen wieder auf
immer und überall
dieses zwanghafte herausatmen
von wahrheit
von untrügerischen gerüchen
und klangfarben
alles spätere lässt sich erdenken
ausweichend erdenken
erfinden
lässt sich erlügen
aber diese prägungen nicht
sie bleiben einem immer
und überall erhalten
stimmen
die in der landschaft liegen
in weingärten reifen
in gärbottiche eintauchen
eingeschlossen in weinfässern wachsen
um dann bei gelegenheit
in wirtshäusern lärmen
schweigen/säuseln/schmatzen/röcheln
zu können
stimmen
die in zwetschkenbaumkronen
sich verkriechen
sich einsammeln einmaischen
und destillieren lassen
um dann hochprozentig
schwer zu atmen
vor dem morgenkaffee
nach dem morgenkaffee
vor dem einschlafen
ein schlafen mit
hochprozentigen erinnerungszwängen
ein versinken
ein träumen
ein eintauchen in das licht
in den süßen modergeruch
hinter all den auftauchenden fenstern
gedanken lassen sich ausgrenzen
aber nicht dieses versinken
in licht/gerüche/geräusche
traumlandschaften sind zwanghaft
hochprozentig
heimatlos:
schweigende
sprachlose
ausgrenzung

5
geboren in ……
geboren am ……
wohnhaft zu ……
vater/mutter/religion
geschlecht/größe/alter
aufgezeichnete identität
in amtsstuben
verwaltete heimat
überschaubare ordnung
räume/zeiten
überschaubare enge
vordergründige sicherheit
vater/mutter
lehrer/pfarrer
krampus/nikolo
überschaubare moralität
kirche/schule/elternhaus
und der damit verbundene geruch
: prägung
der geruch
der angstgeruch
von zwängen
diesen erziehungszwängen
haftet auch in den
spinnwebfäden der fensterkreuze
des hauses kindheit
mit den vielen fenstern
armut/angst/enge
disziplinierungen
diese lauten
schmerzenden erziehungsmaßnahmen
dieser kalte geruch angst
und die grauen schatten
der armut
sind auch heimat
wenn man sie von der ferne
wieder und überall erleidet
sind nicht idyllisierung
sondern prägung
sind auch heimat
unausweichbarer
nicht zu leugnender
enger überschaubarer ort
: das haus der kindheit
mit vielen vielen fenstern
mit einer unendlichen
inneren dimension
:heimat

„heimat, das fenster zur inneren landschaft“
ist der Text zu einer vertonten Text-Bild-
Produktion,
uraufgeführt am 19.12.1992 im Rahmen der
Veranstaltungsreihe „limmitationes“ in
Mogersdorf, Burgenland.
Mitwirkende: Rudolf Hochwarter (Text),
Reinhard Petz (Fotos),
Daniela Graf (Sprecherin), Wolfgang R. Kubizek
(Musik).