eine annäherung an eine ausgelöschte heimat
rudolf hochwarter
1
rein, gesund und mit einer strengen ordnung versehen zeigt
sich das grundstück auffallend vor dem ort. als frische,
hellgrüne verlängerung des ortes. dahinter, direkt
angrenzend, befindet sich ein dunkler erlenwald. feucht.
modernd. inmitten von diesem grundstück wurde in den
sechzigerjahren der brunnen für die ortswasserversorgung
gebaut. ein gepflegter, kurz gehaltener rasen erzeugt einen
kontrast zum dunkel des erlenwaldes. das grundstück ist
eingezäunt, und ein schild weist auf dieses
wasserschutzgebiet hin. fünfzig jahre, nachdem dort
menschen gelebt haben, zeigt sich dieses stück eingeebnete
land rein, gesund, hell….
sauber, in einer strengen ordnung….
eingezäunt….
2
wir spielten als kinder dort, zwanzig jahre nachdem auf
diesem grundstück menschen gelebt hatten. es war damals
noch ein feuchter, dunkler wald, der niemandem zu gehören
schien. und so gehörte er uns kindern. alle nannten ihn den
zigeunerwald, ohne daß wir uns viel fragten, weshalb. es war
ein flurname wie jeder andere auch.
wir kannten keine zigeuner.
3
erwachsene habe ich dort nie gesehen. ein niemandsland vor
dem ort. ein ungepflegtes, urwaldähnliches spielparadies für
uns. ein schlechter, nasser grund, so die erwachsenen. an
erlen, bruchweiden, haselnuß- und holundersträucher
erinnere ich mich noch, auch an bruchholz, das am boden
vermoderte und von farnen überwuchert wurde. und an die
vielen frühlingsblumen, die dort wuchsen. gelbsterne,
blausterne, buschwindröschen, märzenbecher. und an die
quelle, die damals nur für eine viehtränke genutzt wurde. und
an die kleinen eingeebneten stellen im wald, wo die hütten
gestanden haben sollen.
4
die erwachsenen redeten nicht gerne davon.
mehr als ein paar knappe sätze konnte den erwachsenen nicht
entlockt werden. es gab keine erklärungen, schilderungen,
berichte über die eigene rolle. es blieb alles zugedeckt, für
uns kinder weit zurückliegend, rätselhaft, wir waren
unberührt davon, als hätte das alles nicht stattgefunden. es
war geschichte. für uns kinder weit zurückliegend. ohne
zeugnisse. über die sache wurde geschwiegen und dieses
schweigen ist uns kindern in die wiege gelegt worden. wir
fragten nicht nach den zigeunern, wir fragten den vater nicht
nach seinen kriegserlebnissen. es war ein großes
einvernehmen zwischen kindern und erwachsenen.
5
ein name ist mir noch in erinnerung. der ist öfters gefallen.
auf den redete man sich aus. der wäre der verantwortliche
gewesen. vor dem hätten alle angst gehabt. ein vernaderer.
ein überzeugter, sei der gewesen. kopeszki.
6
auf dem friedhof gab es auch zigeunergräber. einige
kindergräber, zwei erwachsenengräber. als kind bin ich immer
bei einem stehen geblieben. beim grab der zigeuner-rosl. auf
dem grabstein befand sich ein bild der frau. es faszinierte
mich. dieses bild war mein zigeunerbild meiner kindheit. der
grabstein und das bild waren für mich die einzigen konkreten
hinweise. es mußte sie tatsächlich gegeben haben.
ich war immer fasziniert von diesem foto auf dem grabstein.
eigentlich erinnerte mich das bild dieser dunklen frau mit
dem weiß in den augen an eine indianerin, wie ich sie mir
durch die karl may bücher vorstellte. es muß eine hübsche
frau gewesen sein. man redete auch gut über die zigeunerrosl.
7
das bild dieser frau ist mir geblieben. sonst habe ich keine
wirklichen bilder vom friedhof aus meiner kindheit. wie die
gräber ausgesehen haben, weiß ich nicht. nur das bild dieser
zigeunerin ist klar vor mir.
die gräber sind nun eingeebnet. grüne flecken im kleinen
friedhof. ausgelöschte gräber. wo sind die grabsteine? wo ist
dieser grabstein mit diesem bild?
wo ist das weiß dieser augen?
in diesem weiß ist die ganze geschichte dieser zigeunerin
begraben.
8
im zigeunerwald mußte es ihre stimme gegeben haben.
manchmal, wenn ich allein dort war, lauschte ich angestrengt
und glaubte sie zu hören. und dann die stimmen der kinder,
laut anwachsend. da kam in mir manchmal angst auf. ich
blickte dann zu den dunklen erlenkronen auf und redete mir
ein, es werde wohl das sausen des windes sein.
9
ja, kinder müßte es im zigeunerwald auch gegeben haben,
stellte ich mir vor. zigeunerkinder. über sie redeten die
erwachsenen nie. sie waren ein tabu. da dürfte sich eine
unangenehme schuld in den erinnerungen der erwachsenen
verwurzelt haben. eine, die nicht einfach abzuschütteln war.
eine sich immer tiefer verwurzelnde schuld.
10
der zigeunerwald gerodet, planiert, begrünt.
die gräber aufgelassen, planiert, begrünt.
keine bilder, keine zeugnisse.
nichts aufgeschriebenes.
auslöschung einer heimat.
11
in einer kürzlich erschienen ortschronik kann man folgendes
nachlesen:
…in […] gab es bis zum 2. Weltkrieg auch einige Roma-
Häuser. Die Roma führten angeblich alle den Namen Horvath.
Zu Beginn des nationalsozialistischen Regimes waren sechs
Romafamilien ansässig. In den Jahren 1938 bis 1941 wurden
diese Familien verschleppt.
12
die verharmlosung oder nichtnennung einer historischen
begebenheit mag gründe haben. einerseits könnte der mut
fehlen, die schuld noch lebender, unmittelbar beteiligter
niederzuschreiben, ihnen die wahrheit ins gesicht zu
schreiben, andererseits scheut man sich möglicherweise
davor, sich mit dem roma-holocaust auseinanderzusetzen.
berührungsangst. das alles hat nicht irgendwo stattgefunden.
hier! mitten unter uns!
das wort verschleppt verharmlost, verschleiert. das wort
verschleppt verfälscht die chronik. macht sie druckbar. macht
sie rein. macht sie unter die leutinbringbar.
verschleppen ist eine gewaltsame ortsveränderung. keine
vernichtung von männern, frauen, kindern. daher:
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fortsetzung einer chronik:
an der verschleppung waren ortsansässige männer, die zu
diesem zweck rekrutiert worden sind, beteiligt. die
verschleppung wurde von einem ss-mitglied, einem gewissen
kopeszki, geleitet. die romafamilien mußten ohne gepäck in
den frühen morgenstunden ihre häuser verlassen und nach
fürstenfeld marschieren. dort wurden sie entkleidet, männer
von frauen und kindern getrennt und in viehwaggons in ein
lager transportiert. ihre hütten wurden niedergebrannt. nach
dem krieg kehrte kein roma zurück. später wurde auf dem
areal der ehemaligen romasiedlung der brunnen der
ortswasserversorgung geschlagen. der sogenannte
zigeunerwald wurde gerodet und ist derzeit
wasserschutzgebiet. die letzten zeugnisse der romasiedlung,
einige gräber auf dem dorffriedhof, wurden von der gemeinde
entsprechend der friedhofsordnung als gräber ohne
angehörige eingestuft und aufgelassen.
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eine andere variante der chronik, die nie geschrieben wird
können:
…von 1938 bis 1941 wurden die romafamilien in
vernichtungslager deportiert. es gab vermutlich keine
überlebenden. da angehörige des ortes an der deportation
mitgewirkt haben, versuchte die gemeinde, ein zeichen der
versöhnung zu setzen. die gemeinde übernahm die pflege der
noch vorhandenen zigeunergräber und errichtete im
ehemaligen zigeunerwald einen gedenkstein. ein mahnmal.
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nach fünfzig jahren:
ein junger gemeindearbeiter mäht den rasen im
wasserschutzgebiet. mit dem kleinen traktor zieht er immer
engere kreise zum brunnen. ich betrachte den hohen zaun um
das wasserschutzgebiet. der zaun ist ungewollt mahnmal. der
zaun erinnert an lager.
ich frage den jungen arbeiter, ob er wisse, was da früher auf
dem grundstück gewesen sei.
er sagt nein.
ich sage, daß auf dem grundstück zigeuner wohnten,
er sagt, nein, er schreit, nein! zigeuner gäbe es hier nicht. er
wisse nichts von zigeunern, die hier einmal gelebt haben
sollen. hier ist nur das wasserschutzgebiet.
da ich diesen jungen arbeiter nicht kenne, frage ich ihn, wie
er heiße.
kopeszki, ist seine antwort.
august 1995